Von Donsö sehen wir auch an diesem Tag nichts, sei schon vorweg verraten. Obwohl uns Helene reichlich vor der Zeit weckt. Gegen halb sechs fegt noch immer der Wind über die Schären hinweg und singt ein Lied vom letzten Hafentag in Schweden. Doch ‚Knöpfchen‘ schlummert bei uns im Vorschiff wider Erwarten noch einmal weg. So beginnt der Tag erst um halb neun – und der Wind hat mittlerweile nachgelassen. Ich präsentiere prompt den Plan, schnell loszubinden und Kurs Anholt zu nehmen – immerhin rund 60 Seemeilen, übersetzt mindestens 10 Stunden. Denn für die nächsten Tage ist relativ schwacher Wind prognostiziert, der weite Schläge im Spätsommer fast unmöglich macht. Und langsam die schwedische Westküste runterzuhüpfen, dafür ist der Sommer erst recht zu fortgeschritten. Heute dagegen lautet die Vorhersage des DWD (eingeholt bei einem Stegnachbarn): Kattegat 5-6 Bft. abnehmend 3-4 Bft., West bis Südwest norddrehend, Welle 2m abnehmend 1m! Annehmbare Bedingungen für die ‚EigenArt‘.
Doch bevor es losgeht, stehen noch einige Beweisfotos für unseren Aufenthalt auf der Insel des Donners an. Dann verabschieden wir uns noch von Jan und Johanna. Da Johanna über ein ‚sehr sensibles Innenohr‘ verfügt, steht für ‚Atacama‘ ein schneller Aufbruch nicht zur Debatte. Fraglich, ob der Zufall uns noch einmal zusammenführt. Unter erstem Reff und Arbeitsfock zischen wir kurz darauf bereits durch die letzten Ausläufer der Westschären. Gierig saugen die Blicke die zurückbleibende Landschaft auf. Für diesen Sommer wohl die letzten Granitformationen.
Ausserhalb der geschützten Schärengewässer trifft die Beschreibung des DWD ziemlich genau zu. Ein freundlicher Wolkenhimmel verspricht einen tadellosen Starkwindtag zum Süd-Gut-Machen. Für meine beiden Liebsten unter Deck ist es sicherlich etwas unbequem, aber gut aushaltbar. Bis auf ca. der Hälfte der Strecke ein größeres Regengebiet durchzieht – begleitet von 7 Windstärken mit deutlich stärkeren Böen. Die Welle zieht schnell nach und türmt sich unangenehm. Ich versichere Lini und mir selbst immer wieder, dass der dahinter erkennbare wundervolle Sonnenschein auf uns wartet und die versprochene Beruhigung mitbringt. Leider liege ich falsch. Es beruhigt sich dahinter nicht. An anderer Stelle habe ich viele Worte über Schwerwetter gemacht. Hier sollen einige Impressionen genügen: Zweites Reff. Pro Minute mindestens eine Salzwasserdusche. Wahre Wellenwände. Extremes Krachen beim Einsetzen. 5 Stunden Konzentration. Aber auch: Wundervoller Sonnenschein. Und: Zuverlässiges Ölzeug. Sowieso: Vertrauen in die ‚EigenArt‘. Unbezahlbar: Die beste Crew der Welt!
Als der Nachmittag in den Abend übergeht, beginne ich mich zu fragen: “Ist Anholt so wie Bielefeld? Produkt einer großen Verschwörung?” Denn noch Immer ist nichts am Horizont zu erkennen. Als sich endlich doch ein Streif abzeichnet, befassen wir uns genauer mit der Ansteuerung des einzigen Inselhafens. Dieser befindet sich am Schnabel der großen Taube Anholt. Und als würde die Taube einen Zweig festhalten, erstreckt sich ein Riff in nordwestlicher Richtung weit bis ins Kattegat hinaus. Glücklicherweise gibt es fast auf dem kürzesten Weg eine 300 m breite Lücke, durch die wir schlüpfen können. Die Vorstellung, buchstäblich an der Insel vorbeisegeln zu müssen, ist wirklich zu grausam. In der Hafeneinfahrt werden wir scherzhaft von einem ausfahrenden großen Boot angerufen: “Ihr seid aber nicht in Schweden hier!” Danke, auf das Wechseln der Gastlandflagge habe ich mich auch schon seit Stunden gefreut!
Zum Ausgleich beschenkt uns der folgende Tag mit wundervollstem Spätsommer. Heute lassen wir es uns einfach nur gut gehen! Der erste Eindruck direkt hinter der Stegbegrenzung: Sandstrand – soweit das Auge reicht! Bis zu diesem Augenblick wusste ich nicht einmal, dass ich solch einen Anblick vermisst habe! Direkt daneben die vertrauten Sanddünen. Das Gefühl von ‘Zuhause’ lässt sich kaum mehr unterdrücken – wundervoll und schade zugleich! Zunächst schnuppern wir ein wenig die Hafenluft mit einer – typisch dänisch – noch aktiven Fischkutterflotte. Als Fischer im rauen Kattegat benötigt man offensichtlich ganz besonderen ‘Treibstoff’! Der Weg zum Inseldorf führt uns danach ein Stück weit in unsere jeweilige Kindheit zurück: Die intensiven Sommergerüche (Kiefernduft, Hagebuttensträucher) am Wegesrand regen uns zu einem glücklichen Gespräch zwischen Gestern und Heute an: Welche Gerüche wir untrennbar mit Situationen, Orten oder auch bestimmten Menschen verbinden.
Wir streifen kurz durch das Dorf und seinen Supermarkt, rasten dann auf einem der glazial entstandenen Hügel oberhalb. Ein wenig erinnert uns diese einsame und spezielle Insel unweigerlich an Hiddensee – wir lassen uns also Würstchen, Gurken- und Kartoffelsalat auf ‘dem kleinen Inselblick’ schmecken. Geniessen den Sonnenschein. Und das Gefühl einer einmaligen Reise. Strecken uns im Gras aus. Der Rückweg führt uns über den Nordbjerg und hält für uns einen Nachtisch am Wegesrand bereit: Helene lernt, dass Brombeeren nicht in Plastikschalen im ‘Brugsen’ wachsen! Wundervoll ist es, im Kiefernwald zu marschieren und ganz ungewohnte Muskelgruppen zu beanspruchen. Von der letzten Anhöhe bietet sich eine fantastische Aussicht über den Hafen. “Wie schön ist es doch, mit einem Segelboot zu reisen.” entfährt es uns beim Blick hinab auf unsere derzeitige Welt.
P.S.: ‘Atacama’ liegt wieder direkt hinter uns, Johanna und Jan hatten eine etwas ruhigere Überfahrt als wir! Auch ‘Shalom’ ist heute eingetroffen. Die Reste unserer Reisegruppe zerstreuen sich unerwartet langsam. Dann werden wir von einem Ehepaar angesprochen, ob wir auch in Göteborg gewesen seien. Ihr Sohn hätte auf ‘Fratzebuch’ ein Bild von der ‘EigenArt’ gepostet. Stimmt, ihr Sohn mit Freundin lag direkt neben uns mit seiner Victoire 22 und erzählte von seinen Eltern, die gerade auf dem Rückweg von Norwegen sind. Und genau die stehen jetzt vor uns – wie klein die Segelwelt doch ist!