Das Phänomen scheint Landesgrenzen zu überschreiten: Spätestens um 10 Uhr am Morgen ist man allein im Hafen. Das ist auch an diesem Mittwoch in Karlsborg so – die Maxi namens ‚JoJo‘ (unser Spitzname für Helenes Cousin Jonathan) sind die letzen vor uns. Manchmal fühle ich mich, als würden wir irgendetwas nicht wissen und deshalb verpassen. Das ist glücklicherweise einfach abzuschütteln. Heute wartet zum Beispiel die letzte Aufwärtsschleuse in Forsvik auf uns. Und die wird nicht einfach so ‚zu‘ oder gar ‚weg‘ sein! Das bestätigt uns auch das derzeit meist verwendete Druckerzeugnis an Bord: Der ‚Göta Kanal Skipper-Guide‘. Also treibt uns nichts und wir geniessen unser ausgedehntes Frühstück – ist ja zumeist auch die einzige richtig ruhige Mahlzeit zu dritt. Kurz darauf dieseln Johanna und Jan auf ‚Atacama‘ am Steg vorbei, die sehr früh in Motala aufgebrochen waren. Wir tauschen uns während ihrer Vorbeifahrt kurz über die noch nicht gänzlich verarbeiteten Erlebnisse von gestern aus. Die sitzen tief.
Gleich nach dem Ablegen kommt die Arbeitsfock wieder zu ihrem Auftritt. Die lässt sich im Kanal einfach am besten handeln, da verzichten wir gerne auf einen Knoten Fahrt. Damit geht es im schönsten Sonnenschein über ein Seestück namens ‚Bottensjön‘ in Richtung der Schleuse in Forsvik. „Rechts sind Bäume, links sind Bäume und dazwischen Zwischenräume“ singen wir und fühlen uns ein wenig in die kiefernbestandenen Schären zurückversetzt. Wirklich schön. Kanalfahrt ohne Kanal! Wir sind bisher so viel gesegelt, wie ich niemals für möglich gehalten hätte. Und so wird es diesen Tag weitergehen. Denn die älteste Schleuse des Kanals in Forsvik unterbricht unsere Seefahrt nur für ein kleines Stück. Und dazu auch noch ein sehr Feines.
Die Schleusenkammer ist nicht vollständig gemauert, wie die der anderen Schleusen, sondern besteht teils aus nacktem Fels. Herr Nobel hat es seinerzeit ermöglicht, dieses Rechteck in die massiven Granitschichten zu sprengen. Deshalb ist die Wand auch sehr bucklig und scharfkantig. Wir freuen uns nicht zum ersten Mal über die Investition in zwei anständige Kugelfender. Und auch nicht zum ersten Mal über die Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft der studentischen Schleusenwärter. In Sachen Technologieromantik ist die direkt auf die Schleuse folgende Hubbrücke ein Hingucker. Anders als das Schild auf dem Schleusengebäude verkündet, ist die Schleuse selbst jedoch nicht der (touristische) Höhepunkt auf dem Götakanal.
Denn die darauf folgenden Kanalkilometer sind wirklich ein Kleinod. Zunächst weichen die künstlichen Ränder zurück und machen natürlich zergliederten Ufern Platz. Schilfbestanden. Grassodenbewachsen. Birkengesäumt. Hier fällt eine schiefe Kiefer fast in den Kanal, dort wuchert das Leben auf einer Miniaturinsel. Direkt neben dem Boot verliert sich der Blick in ausgedehnten Sumpflandschaften, die vom Sonnenlicht durchflutet werden. Immer wieder mündet die Strecke in einen kleinen See, dann verengt es sich wiederum auf wenige Meter. Teils hat man eine natürliche Rinne vertiefen und verbreitern müssen. Gesäumt sind diese Abschnitte von Bruchsteinmauern aus Abraum. Natürlich fallen deren Kanten nicht senkrecht ab, so dass Warnschilder daran erinnern, gehörigen Abstand zu halten. Verwunderlich: Alle paar Meter stehen Poller, wo man doch eigentlich gar nicht festmachen kann. Ob die früher zum Treideln per Lassowurf dienten, wo kein Esel und kein Ruderriemen helfen konnte? Dann ein schnurgerade mit dem Dynamitstift in den Granit gezogenes Teilstück, das wirklich kaum noch Ausweichmöglichkeiten bietet. Und natürlich kommt uns genau dort ein Motorsegler entgegen.
Kurz darauf sehen wir, das wir mit unseren Kanalgebühren auch die Erhaltung dieses technischen Freilichtmuseums ermöglichen: Ein großes Arbeitsponton liegt neben dem Fahrwasser. Ein Wiedersehen, denn das Gefährt haben wir in Söderköping passieren gesehen. Ziemlich abenteuerlich. Als Schubeinheit ein kleines Arbeitsboot und am vorderen Ende ein quergestellter Aussenbordmotor als Unterstützung beim Steuern. Clevere Idee an sich – verbunden sind der Kapitän und der Steuermann des über 20 m langen Schubverbandes per Kopfhörer und Funk.
Nun sind wir im südlichen Teil des ‚Viken‘ angekommen – ein hakenförmiger See, der den geographischen Höhepunkt des Kanals bildet. Aber auch aus Sicht des segelnden Naturliebhabers: Man segelt(!) durch einen engen Schärengarten, der auf wenigen Quadratkilometern alles bietet, was diese Landschaft so ausmacht. Und das im Kleinformat. Statt einer detaillierten und wortreichen Beschreibung können viele Photos den Eindruck besser beschreiben. Fest steht, der Auslöser der Kamera glüht heiß in tiefem Rot.
Lini hat anschliessend das Vergnügen den geräumigen nördlichen Teil des ‚Viken‘ zu durchsegeln – inklusive gewaltigem Regenschauer und einhergehenden Böen. Glücklicherweise nur leicht unangenehm und nicht das Kaliber von gestern. Beim Navigieren erfreut sich unsere Steuerfrau an den Hinweisen der lokalen Segler, die aus der Karte nicht ersichtliche Steine mit Bojen markiert haben. Der durch das kurzfristige Entdecken solcher Hinweise hervorgerufene Slalom auf dem Kreuzkurs erinnert sehr stark an die Wachsmalerstriche auf unserem Cockpitboden. Jörn von der ‚Sjögeten‘ hatte also doch recht!
Die Wärterin der ersten Abwärtsschleuse in Tåtorp weist uns freundlich darauf hin, dass wir wegen der Betriebszeiten der Brücke heute nur noch bis Vassbacken kommen werden – während sie fleißig im Kreis läuft, um die handbetriebenen Schleusentore zu öffnen. Unterstützt wird sie von zwei Touristen auf der anderen Seite, die uns gerne die Arbeit abnehmen. Es folgt ein tiefer in die Umgebung geschnittenes Kanalstück, das von der Abendsonne in Szene gesetzt wird. Ein Paddelboot mit jungen deutschen Touristen begleitet uns, als wir plötzlich auf eine Verzweigung im Kanal stossen. „In die Karte brauchen wir doch auf dem Kanal nicht zu gucken, man kann sich ja nicht verfahren!“ war 10 Minuten vorher noch unsere Meinung. Dummerweise hilft ein Blick ins iPad mit Navionics auch nicht weiter. Wir entscheiden uns für die kürzere Route, obwohl wir das Rechtsfahrgebot verletzen. Beim Erreichen der Zusammenmündung sind wir überrascht: Der andere Arm ist mit Sperrtonnen markiert, wir hätten also zurück gemusst. Soviel zu den Grenzen rein digitaler Navigation.
In Vassbacken gibt es gar nicht erst Bürgersteige zum Hochklappen. Aber einen alten Trecker, den Helene viel toller findet, als auf der Wiese Ball zu spielen. Und die gleiche Endzeit-, ähm Endsaisonstimmung wie fast überall längs des Kanals. Aber für das leckere Abendessen an Bord braucht man auch keine Action. Genug Eindrücke hatten wir heute auch, so sind Magen, Augen und Geist gesättigt.
Der Donnerstag bietet im Ausgleich so gut wie überhaupt nichts Bemerkenswertes. Kanalroutine – ohne eine einzige Schleuse – in einer landwirtschaftlich geprägten Landschaft. Durchaus schön, aber nicht gerade aussergewöhnlich. Könnte auch irgendein norddeutscher Kanal sein. So sind es die kleinen Dinge am Kanalrand, die berichtenswert sind. Beispielsweise überholt uns mehrere Male ein Rennrasenmäher von John Deere (Manni wird sich freuen!) auf seinem Weg zu den diversen von der Kanalgesellschaft zu pflegenden Wiesen. Dann erblicken wir in Töreboda die kleinste und wohl auch kürzeste Kabelfähre Europas – könnte man auch als Schiebebrücke bezeichnen. Im Hafen gelingt es mir endlich, die hölzernen Fender der Kanal-Kreuzfahrtschiffe auf einem Foto in Szene zu setzen. Beim Abendessen dreht Helene das Spiel um und füttert ihren Papa.
Doch die Krönung an skurrilem Unterhaltungswert bietet ein abendlicher Auftritt der örtlichen Blaskapelle. Auf der Bühne verschanzen sich mehr Musiker fortgeschrittenen Alters hinter ihren mit Schals abgehängten Notenständern, als Zuschauer im Publikum zu finden sind. Gespielt werden schmissige Hits und Evergreens in der Intonation feinster Marschmusik. Zackig salutiert der Dirigent bei jedem Applaus. Einfach liebenswert! Wie ein Musikschulelternvorspielabend. Man möchte sie am Liebsten gleich in den Arm nehmen und sagen: „Das hast Du ganz toll gemacht! Ich habe keinen einzigen Fehler gehört!“ Leicht verstimmte Querflöten und Klarinetten sind bei dem kühl-regnerischen Wetter wirklich nicht zu vermeiden und sorgen für die notwendigen Schwebungen und Dissonanzen. So hört man die Verspieler tatsächlich nicht! Vor der Bühne hält ein Techniker auf sein Handy starrend die drei Regler seines Mischpults in Schach. Am Rande sitzen die Anwohner auf ihren Gartenstühlen und geniessen die Show. Und es wird wirklich alles aufgeboten, was so ein kleines schwedisches Nest zu bieten hat: Vor der Bühne führen die ‚Töreboda Drillflickor‘ ihre Künste vor – sehr junge und nicht mehr ganz so junge Mädchen schwingen schick uniformiert den Stab und das Tanzbein. Zu Abbas ‚Dancing Queen‘ – einem Drehbuch würde das keiner abnehmen! Jung und alt vereint in der Pflege der Tradition. Und das meine ich bei allem liebevollen Spott ganz ehrlich: Wie ist Töreboda doch zu beneiden!
Den restlichen Kanal mit 19 Abwärtsschleusen absolvieren wir am Freitag im Pack mit ‚Atacama‘, ‚Penelope III‘ und ‚Louise‘. Abwärts werden die Leinen nirgendwo fest belegt, sondern umgekehrt ständig nachgegeben. In der Kammer entstehen kaum Turbulenzen und so hat man auch keine wirkliche Kraft aufzuwenden. Im Vergleich zu den Aufwärtsschleusen: Abwärts ist die Leinenarbeit an Land aufwändiger, aufwärts das Dichtholen an Bord. Alles in allem ist beides ein Klacks, wenn man es erstmal raus hat. Am Ende landen wir in Sjötorp im Gästehafen, der sich im Becken vor der allerletzten Schleuse befindet. Die Liegegebühren hier sind noch inbegriffen, 50m weiter, unten auf Niveau des Sees, schon nicht mehr. Bevor es also auf den großen Vänernsee geht, legen wir noch ein oder zwei Tage ‘Boatkeeping’ ein – die Waschstube ist nämlich ebenfalls in der Kanalgebühr enthalten! Stichwort: ‚Servicekort-en’!
So gehen anderthalb Wochen abwechslungsreicher Kanalfahrt für uns zu Ende. Zugleich haben wir den nördlichsten Hafen unserer Reise erreicht, was einen Blick zurück provoziert: Schön war es auf jeden Fall. Und überraschend segelintensiv! Gesamtverbrauch von ca. 17 Litern 100:1-Gemisch auf 180 km spricht für sich! Damals(!) im Schärengarten von Sankt Anna warnten uns scherzhaft Ingo und Yvonne: „Ach, ihr macht den Scheidungskanal!“ „Wieso Scheidungskanal?“ „Na, weil man sich in jeder der vielen Schleusen wunderbar zerstreiten kann! Schliesslich macht der Partner doch immer und sowieso alles falsch und ist überhaupt an allem Elend Schuld!“ sagen sie – und blicken sich verliebt in die Augen. Von derlei sind wir glücklicherweise vollständig verschont geblieben – das in Scheidung mündende bootstechnische Streitpotential, nicht das Verliebt-In-Die-Augen-Blicken! Zanken ist zwar meist täglich im Programm – aber nie ernstlich oder gar länger anhaltend. Ähnlich wie an Land in Rostock, würde ich sagen. Viel öfter sind da die dankbaren und zutiefst glücklichen Momente unserer Dreisamkeit. Angesichts von zwei Monaten ständig mit Kleinstkind auf engem schaukelndem Raum sind wir geradezu der personifizierte Familienfrieden. Mit oder ohne Götakanal!