Die vorerst letzten Seemeilen in der Ostsee legen wir am Montag vor dem Wind zurück und mit ordentlich Druck. Es geht durch die Fjordlandschaft in Richtung Mem, wo der Götakanal beginnt. Vorbei an steilen Felswänden und baumbestandenen Höhenzügen. Kommt man von Westen frisch, neu und unverdorben aus dem Kanal, ist die Landschaft wahrscheinlich ein echter Hingucker. Für uns reicht sie dennoch an die Schären der letzten Wochen nicht heran. Auf halber Strecke kommt uns ein Segler tatsächlich tiefgerefft auf einer sehr sportlichen Kreuz entgegen – selten geworden solche Anblicke. Wir sind angesichts Helenes Schlaf sehr froh, nur das Groß gesetzt zu haben. Egal welche Fock, sie würde öfters ordentlich schlagen, da die Windrichtung von den Felswänden ständig verändert wird. In Lee der Insel Killingholmen schiessen wir dann auf und bergen das Groß – wahrscheinlich für mehrere Tage das letzte Mal. Dann tuckern wir ganz sachte in Richtung Kanaleinfahrt.
Von hinten kommt jedoch ein großer Brite auf. Wortwörtlich. Denn es handelt sich hier schon um ein SegelSCHIFF! Gemäß meiner Lieblingsdefinition: „Ein Schiff bewegt sich nicht, wenn man es betritt! Alles andere ist ein Boot.“ Und diese Ketsch würde sich wohl nicht mal bewegen, käme ein Elefant an Bord. Die braucht dementsprechend Platz beim Festmachen. Und der ist sehr rar an der Stelle, wo man längsseits gehen soll. Denn festmachen muss man: Um die Kanalgebühren zu entrichten und auf die Schleusung zu warten. Der Brite sitzt keine 30m hinter uns. Mit voller Windlast von hinten und garantiert mindestens 4 Knoten. Und für ihn ist da gerade so noch Platz. Sehr kurz entschlossen halte ich also auf eine Lücke zwischen zwei Booten zu, die kaum zwei Meter länger ist als die ‚EigenArt‘. „Oh oh, wenn das man gut geht“, denke ich noch. Kicke den Rührstab in den Rückwärtsgang, drehe Gas auf und springe mit einer Spring zum Bremsen von Bord. Lini schaut überrascht und fragend, während sie vorne abhält. Saugend landen wir in der Lücke. So, jetzt hat der Brite den Platz den er braucht. Ich blicke hoch und mir entgleisen die Gesichtszüge: Der rauscht einfach ohne zu Stoppen in voller Fahrt direkt in die gerade offen stehende Schleuse. Der hat Chuzpe!
Wir werden sofort von Gustav begrüßt, der Welcome-Manager, Schleusenwärter und Ticketverkäufer in einem ist. Während der Saison in den Semesterferien natürlich, wie die meisten am Kanal! Auch er staunt überrascht der britischen Ketsch hinterher. Nachdem wir ordentlich festgemacht haben, knöpft er mir die stolzen Kanalgebühren ab und drückt uns die wirklich umfangreichen Infomaterialien in die Hand. Lini und ich stürzen uns sofort auf die Anweisungen für das Schleusen, denn wir müssen rechtzeitig alle Leinen vorbereiten. Ein wenig aufgeregt sind wir beide und deshalb sehr froh, beim ersten Schleusen einen der hinteren Plätze zu bekommen. Dort sind die Strömungen und Turbulenzen nicht so stark. Vor dem unteren Schleusentor setze ich Lini an Land und sie nimmt die Achterleine mit. Dann fahren wir langsam in die Schleuse ein, ich belege die Achterleine möglichst kurz. Dann werfe ich vom Vorschiff aus die Vorleine hoch. An Land legt Lini die Leine einige Meter vor dem Bug durch einen Ring. Und hält sie dann während des gesamten Schleusens auf Zug, damit die ‚EigenArt‘ schön nah an der Schleusenwand bleibt. So machen es auch alle Motorboote. Die Segler belegen die Leine normalerweise an Land, führen sie dann durch einen Block am Bug nach hinten auf die Schotwinsch. Dort wird sie Stück für Stück eingeholt, wenn das Wasser ansteigt. Aber es muss sich bei uns ja auch jemand um Helene kümmern – ob das nebenbei geht, können wir noch nicht einschätzen.
Das Schleusentor schliesst sich und das Wasser schiesst in die Kammer. Die vorderen Boote werden ordentlich durchgeschüttelt, aber bei uns hält sich das in Grenzen. Lini macht das sehr gut. Ich hole Helene an Deck, die völlig fasziniert von den schiessenden Wassermassen ist. Die Enge tief unten in der Schleusenkammer ängstigt sie glücklicherweise überhaupt nicht. Lini kann mit ausgestreckter Hand unsere Salinge auf halber Höhe des Masts fassen! An Land sind die Schleusen ein unglaublicher Touristenmagnet und ‚Knöpfchen‘ auf der bunten ‚EigenArt’ sorgt zusätzlich für Aufsehen. Sie winkt fleißig in jedes lachende Gesicht. Während das Wasser steigt, beruhigt sich das Strömen immer mehr, bis wir auf dem oberen Niveau angekommen sind. Die Schleusentore öffnen sich, Lini wirft die Leinen los und steigt über. Nun beginnt unsere Kanalfahrt.
Und das ist schon reichlich schräg. Der Kanal ist eben kein neumoderner Zweckbau, der schnurgerade und ewig gleich eine Furche durch die Gegend zieht. Er schlängelt sich sanft durch die schwedische Landschaft und alle paar Minuten verändert sich das Bild. Kann man an einigen Stellen weit über das Land blicken, dass unter dem Kanalniveau ausgebreitet liegt, bilden an anderen Stellen steile Felswänd direkt das Ufer. Manchmal wiederum kommt fast holländisches Grachtenfeeling auf. Mal ist er breiter, dann kommen enge Stellen, an denen die Bäume über das Ufer ragen. Es gibt sogar Fahrwassertonnen, wo untiefe Stellen zu vermeiden sind! Bei Helene rufen besonders die am Kanal grasenden Kühe und Schafe spitze Schreie des Entzückens hervor. Für unser ‚Knöpfchen‘ also definitiv schon einmal ein Volltreffer.
Vor der zweiten Schleuse machen wir an einem der Holzanleger fest, um auf die Schleusung zu warten. Wir rücken bis ganz vorne durch. Eine gute Entscheidung, denn ein paar Minuten später kommt die britische Ketsch um die Ecke – ‚Gas Pirate‘ können wir nun lesen. Ich deute mit leicht spöttischem Unterton an: „Maybe, you could leave some space for the other boats?“ „I`m surprised you did even notice us!“ kommt es zurück. Und damit beginnt unsere britisch-neckische Kanalfreundschaft. Die Schleusentore öffnen sich: „You want me to go first?“ mit britischem Akzent. Schöne Frage – die zerquetschen uns ja sonst wie eine Fliege an der Wand! Als ich den Schlammwälzer starten will, lässt er uns das erste Mal seit Warnemünde hängen. So geht die Schleusung ohne uns los. Nicht so schlimm, wenn nur endlich wieder das gewöhnte „Räng-Däng-Däng“ erklingen würde. Ich fummele am Tank, Schlauch, Anschluss und den üblichen Verdächtigen herum. Der Schlauch scheint beim Tanken verklemmt worden zu sein. Ich pumpe kräftig. Trotzdem Nichts. Mit Choke, ohne Choke. Nichts. Horrorszenarien zucken durch meinen Kopf angesichts der verbleibenden 180 Kanalkilometer. Schliesslich probiere ich es einfach mit Geduld und reiße 20 mal hintereinander an. Dann lässt er sich herab und kommt spuckend in Gang. Ob es nun zu mager oder zu fett war – ich weiß es nicht. Seitdem schnurrt er wieder und lässt sich förmlich durch scharfes Angucken starten. Vielleicht wollte er nur einmal wieder Aufmerksamkeit bekommen. Und Dankbarkeit für seinen unauffälligen Dienst. Wenn er wüsste, wie viele liebevolle Spitznamen er schon von mir bekommen hat! Nach diesem Aufreger erledigen wir die zweite Schleusung mit Wärter Jakob fast schon mit Links.
Wir sind geizig. Zu geizig jedenfalls, um uns extra Papierkarten für den Kanal und seine Seen anzuschaffen. Deshalb navigieren wir das erste Mal nur mit dem iPad und der Navionics-App. Und das scheint auch ganz gut zu funktionieren, verfahren kann man sich ja nicht! In Söderköping stellen wir jedoch die Grenzen fest: Die Schleusen sind manchmal nur auf detailliertester Zoomstufe zu erkennen und die Gästehäfen sind nicht immer und erst Recht nicht immer korrekt eingezeichnet. Wir sind also überrascht, als wir um eine Ecke kommen und die nächste Schleuse auf uns wartet – BEVOR wir in den Hafen kommen. Wir sind alle Drei eigentlich am Ende unserer Kräfte, drückt die Hitze im Binnenland doch mächtig auf den Schädel. Trotzdem müssen jetzt durch da. Wir tanken in einer Pizzeria direkt an unserem Liegeplatz wieder auf (während geschlagene 4 Stunden der gleiche Song läuft!) und machen einen ausgedehnten Abendspaziergang mit Helene im Bondolino. Unter anderem vertiefen wir unsere Bekanntschaft mit den ‚Gas Pirate(n)’, die an Deck beim ‚Dinghy Dinner‘ sitzen: Ihre festliche Tafel haben sie auf dem an Deck lagernden Beiboot gedeckt, um das der Eigner und unzählige Freunde beim fröhlichen Abendmahl sitzen. Der Rundgang in der Stadt lässt in mir einmal mehr ein gewisses ‚Kalle Blomquist‘-Gefühl aufkommen. Kalle ist der Held einiger skandinavischer Kinderromane und in den kopfsteingepflasterten Strassen meine ich, das Geschrei seiner Jugendbande zu vernehmen.