Ankertage

Die Nacht vor Anker in Båtsviken war sehr ruhig, wobei der genossene Whiskey bestimmt geholfen hat. Gegen Morgen jedoch hat der Wind auf Süd gedreht und weht genau hinein. U.a. deshalb hat sich die Bucht als wir aufstehen bereits deutlich geleert und die Letzten machen während unseres Frühstücks los. Wir lassen uns viel Zeit, gehen Baden und holen auch irgendwann gegen Mittag den Anker auf. Nur unter Groß steuert uns Lini durch die engen Schärenfahrwasser. Fotografiert hier einen idyllischen kleinen Fischerhafen, dort ein paar Felsen. Grüßt vorbeifahrende Segler, kommentiert entgegenkommende Boote und ihre Eigner. Hakt die Tonnen mit dem roten Geizer ab, den Helene natürlich bei jeder Gelegenheit klaut. Pures Segelleben eben. Bewegung auch um des Gefühls willen. Schliesslich steuern wir die nächste Ankerbucht an, tief eingeschnitten liegt Bokö Hamnvik zwischen den Eilanden.

Da wir heute einmal ziemlich früh dran sind, ist die Bucht noch nicht sehr voll. Nur an der besten Stelle liegt schon jemand, dem wir leider ein bisschen auf die Pelle kriechen müssen. Position 58°5,853’N 16°49,314’E. Während wir Essen kochen, füllt es sich langsam. An Bord der ‚EigenArt‘ geniesst Helene das Planschen in unserer mobilen Badewanne. Auf einmal macht es wirklich laut „Rummms“! Am Eingang der inneren Bucht wird nach heftigem Nicken und einer Gedenksekunde kräftig der Rückwärtsgang eingelegt. Da hat jemand die Karte überprüfen wollen – ob der Stein auch wirklich da liegt! Die Yacht macht einen weiten Bogen und hält dann völlig unbeeindruckt auf eine der beiden Felswände zum Heckankern zu. Wirkt völlig cool. Fast schon geübt. Mir hätten sämtliche Haare zu Berge gestanden. Für Helene geht es zeitig zu Bett, hat sie doch über den Tag wenig Schlaf bekommen. Nicht ganz unerwünscht. Die beiden ‚Großen’ treffen sich wieder zum Sundowner auf dem Vorschiff – allerdings ein paar Stunden früher, als den Tag zuvor. Gut, dass die Dämmerung hier so ewig dauert. Jedenfalls haben wir den Fuss seit über 30 Stunden nicht einmal an Land gesetzt.

Der Samstag beginnt mit einer kleinen Überraschung. Aufgrund der weitgehenden Windstille sind unser Nachbar und wir entgegengesetzt geschwoit – und es hätte durchaus zum Zusammenstoß der beiden Hecks kommen können. Er ankert aber auch ohne Kette mit unglaublich viel Leine und dreht sich in Archimedeschen Kreisen. Während des Frühstücks halten wir da ein Auge drauf. ‚Noli disturbare…‘ Obwohl es wirklich sehr schwach weht, setzen wir nach Verlassen der Bucht die Segel und drücken auf den Roten Knopf von Nick Knatterton. So driftet Lini mal mit mehr, mal mit weniger Wind in Richtung Norden. Längst ist die erwünschte tiefentspannte Schären-Routine eingekehrt – die Tage ähneln sich und sind auf angenehme Weise ereignislos. Im Sinne von ‚keine Aufregung‘. Das Leben an Bord ist ja sowieso schon seit langer Zeit eingespielt. Wenn es sich auch immer wieder verändert, vor allem Dank Helenes Entwicklungen.

Während für die meisten Kinder mit über einem Jahr das Laufen von entscheidendem Vorteil in ihrer Umgebung ist, bringt das Helene an Bord nicht sehr viel – ist ja gar kein Platz für ein paar Schritte. Sie hat dafür allen Grund, Ehrgeiz beim Klettern zu entwickeln. Zu Beginn der Reise gab es viele Ecken, wo wir ungesichert gefährliche, empfindliche oder sonstwie erwachsene Dinge verstauen konnten. Weil sie dort einfach nicht hinkam. So war z.B. die Steilwand zwischen Kocher und Backbord-Hundekoje ein überwindliches Hindernis. Also stapeln sich viele interessante Sachen in der Seitenablage neben besagter Koje. Seit einigen Wochen beherrscht Helene das Rückwärts-Absteigen vom Kocher und entdeckt nun jede Woche neue Geheimnisse und Schätze. Und für ihre Eltern wird der Sicherheitsverwahrungs-Stauraum immer knapper!

Die Zielfindung ist auf der ‚EigenArt‘ meist sehr operativ. Wir segeln los und schauen, wie es so geht. Meist immerhin mit einem möglichen Ziel. Es gibt aber so viele Faktoren, die den Tagesablauf beeinflussen – da lohnen Festlegungen nicht. Ausserdem wollen wir uns nicht von gefassten Plänen diktieren lassen. Vielmehr sollen in jedem Moment die aktuellen Bedürfnisse und Wünsche Berücksichtigung finden. Wenn es Zeit wird, schlagen wir dann Heikos Revierführer auf und suchen eine geeignete Ankerbucht. Goldwert das Ding. Heute fällt uns Väggo Långholmsviken in den Schoss. Volltreffer. Hier finden wir in Vollendung, was wir uns gewünscht haben. Doch der Reihe nach.

Bis vor die Einfahrt der lang gestreckten Ankerbucht wird gesegelt. Dann geht es im Schleichtempo um die steile Felswand, da die Einfahrt von unterseeischen Steinen begrenzt und nur wenige Meter breit ist. Als wir um die Ecke kommen, fallen mir fast die Augen aus: Naturhafen, das ist einfach der einzige passende Begriff. Auf der linken Seite liegen in dichter Packung über 10 Boote nebeneinander direkt am Felsen mit Heckanker. Auf der rechten Seite ein wenig weiter drin, noch einmal bestimmt 7. Dazwischen ist gerade soviel Platz, dass nicht alle ihre Anker auf einen Haufen werfen müssen. Überall sind bereits Ringe im Fels vorbereitet. Eigentlich hatten wir wieder konventionelles Ankern vor, aber das fällt wegen Platzmangels komplett aus. Kurzentschlossen wird eine Lücke zwischen zwei Landsleuten angesteuert und das Grundeisen geht nach achtern über Bord. Vorleinen sind schnell ausgebracht und schon entschwinden Helene und Lini die steile Felswand hinauf zur Krabbelstunde. Meine Frage in die Runde „Wo kann ich hier Landstrom legen?“ wird mit Gelächter quittiert.

Es ist heiß, geradezu schwül und riecht schon förmlich nach Gewitter. Da kontrolliere ich doch vorsichtshalber noch den Halt des Ankers. Ich ziehe sanft an der Ankerleine, die genauso sanft nachgibt. Scheiße. Nach einigen Zügen zeigt die Trosse auf und nieder. Der Anker liegt jetzt also genau unter dem Heck. Der hätte überhaupt nichts gehalten, gut dass ich mich nicht einfach drauf verlassen habe. Ich vertäue mich kurz zur Heckklampe der deutlich längeren deutschen Nachbarn zur Linken (Wolfgang und Ute, unüberhörbar aus Süddeutschland). Sie geben mir den Rat, den Anker an einen Kugelfender zu binden und ‚auszuschwimmen‘, das sei ‚am wenigsten Aufwand’ und hätten sie ‚schon oft gemacht’. Klingt für mich erstmal ein wenig zweifelhaft bei unserem Ankergeschirr, aber man will ja auch nicht beratungsresistent erscheinen. Zumal der Kugelfender bereits hilfsbereit unaufgefordert herübergereicht wird. Also ab ins nasse Element. Aber 20m Kette ziehen mich nach 10m Schwimmen dermaßen stark wieder zurück, dass ich trotz vollem Krafteinsatz auf dem Fleck verharre. Das wird so nichts. Stattdessen mache ich vorne los, hole den Anker wieder komplett ein, setzte so weit zurück wie in der Bucht möglich und bringe den Anker erneut aus. Alles in Zeitlupe und super ruhig. Diesmal fasst er zuverlässig und mein Augenmaß hat auch gestimmt: Bei guter Spannung brauche ich die am Ende belegte Leine nicht einmal mehr verkürzen. Fest. Das Felsidyll kann beginnen.

Es ist diese seltsame Stimmung von Hafenleben ohne jegliche Infrastruktur, die uns besonders gefällt. Der enge schluchtähnliche Kessel der Bucht vermittelt ein behütetes Gefühl. Dazu sind unsere Nachbarn vom IF-Boot zur Rechten – Yvonne und Ingo aus Stralsund – einfach zum Liebhaben. Helene und Lini haben sie schon beim Landgang getroffen und sich sehr nett unterhalten. Als ich dann mit ‚Knöpfchen‘ noch einmal die Felswand entere, kommen die Beiden dazu und sind total an ihr interessiert. Helene ist auch gleich aufgeschlossen und geht auf die liebevollen Spielangebote sehr dankbar ein. Nebenbei unterhalten wir uns über kleine und große Boote, Segellernen und über die Wichtigkeit der Familie. Sitzen und krabbeln dabei über eine sonnengewärmte Granitplatte zwischen gewundenen Kiefern. Die Gewitterluft hat sich verzogen und es ist einfach nur angenehm. Dann gibt es leckeres Abendessen und die übliche Abendszenerie in Kabine und Cockpit. Völlig unspektakulär und deshalb einfach grandios. Völlig in der Schärensegelei versunken.

Das nächtliche Gewitter mit taghell blitzdurchzucktem Himmel überstehen wir hier absolut sicher. Allerdings verholen einige Boote von der gegenüberliegenden Seite der Bucht, weil offensichtlich ihre selbst in die Spalten geschlagenen Felsanker nicht halten. Am Morgen scheint wieder die Sonne von einem klaren Himmel. Wir machen einen gemeinsamen Ausflug um die Bucht herum auf die andere Seite. Der Weg führt über Wurzeln, Steine und Moosteppiche, teils am Steilhang, dann wieder flacher, unter Kiefern und über Felsgrate. Von der anderen Seite bewundern wir unseren Liegeplatz und unser hübsches Boot. Helene geht ihrer skandinavischen Lieblingsbeschäftigung nach: Steine untersuchen – Tante Gloria hätte ihre wahre Freude. Hier könnten wir noch tagelang bleiben! Doch irgendwie drängt es uns jetzt in Richtung Kanal.

Aus der Bucht heraus und durch den Sund zwischen den Inseln Väggö und Håskö motoren wir, bevor ein leichtes Abfallen das Setzen der Segel erlaubt. Den Rest des Tages rauschen wir durch den wundervollen Schärengarten von Sankt Anna. Durch breite Sunde und enge Kanäle. Mal mit freiem stetigem Wind, dann wieder böigen Stößen in der Abdeckung verschiedener Inseln. Im Lagnöströmmen wähnen wir uns auf einmal mitten auf der Mecklenburgischen Seenplatte: Die felsdurchsetzte Schärenlandschaft ist zurückgeblieben und hat einer flachen, schilfgesäumten Binnenlandschaft Platz gemacht. Wir fürchten schon, es könnte ein abrupter Abschied sein. Doch am Ende des Stroms öffnet sich der Blick wieder und wir können ein letztes Mal Abschied nehmen. Die Augen können sich kaum satt sehen an den felsigen Eilanden, den Moosen, Flechten und Kiefern. Doch unwiderruflich bleiben die Schären zurück, als wir den engen Ettersund nördlich von Eknön passieren. Jetzt liegt der Götakanal vor uns und wartet bestimmt mit ähnlich eindrücklichen Erlebnissen auf.

In Stegeborg machen wir fest, wo an einer alten Schlossruine eine Seilfähre über den Fjord setzt. Ich kümmere mich an der ‚Sjömack’ (Seetankstelle) das erste Mal um die Aufstockung unserer Kraftstoffvorräte – wir haben seit HRO noch keine 25 Liter verbraucht! Das ändert sich jetzt wohl, man kann im Kanal schliesslich kaum segeln. Derweil versucht die junge Polin neben uns, ihren niegelnagelneuen Kleinkreuzer vom Typ Phobos 22 um zwei Liegeplätze zu verholen. Wohlgemerkt ohne den Motor zu starten. Meine angebotene Hilfe lehnt sie mehrfach lächelnd ab: „I´ll cry, when I need your help!“ Selbst ist die Frau. Unterdessen mixe ich das ‚Frühstück für Zweitakt-Champions‘ an, 100:1. Und kann das Schauspiel einfach nicht ignorieren. Denn einen rechten Plan scheint sie nicht zu haben, wie sie von der einen Mooringtonne los- und an der anderen festmachen soll. Alleine auch wirklich recht knifflig. Schliesslich eile ich ihr doch zur Hilfe und sie nimmt sie sehr dankbar an – nach mehreren fruchtlosen Versuchen. Sie bietet mir zum Dank polnisches Bier an. Gerne sage ich da Ja, sind die letzten dänischen Carlsberg doch vor einigen Tagen meine Kehle heruntergeflossen. Als sie mir dann aber gleich zwei Viererpackungen Halbliterdosen rüberreicht, bin ich komplett sprachlos. „I don`t like beer and my husband only drinks whiskey!“ wirft sie noch hinterher. Sind dann wohl für solcherlei Gefälligkeiten an Bord gekommen, die Biere. In Skandinavien ist das alkoholisch Flüssige eine harte Währung!