Ab-Vättern!

Die Schreckensgeschichten von Binnenseen und ihrer Unberechenbarkeit kennt wohl jeder Segler. Deshalb steht es Seeseglern auch schlecht an, auf die ‘Binnenschiffer’ herunter zu schauen. Können hier doch in Rekordzeit wirklich ungemütliche Situationen entstehen, die man auf See noch meiden kann. Ist uns alles bekannt. Ich habe schliesslich auf dem Starnberger See Segeln gelernt – und damals das optische Warnsystem am Ufer für gefährliche Fön- und Sturmwetterlagen immer im Auge gehabt. Einschüchtern lassen sollte man sich aber nicht – im Prinzip…

In Motala am Ostufer des Vätternsees beginnt der Dienstag Morgen mit wundervollem Wetter und mäßigen Winden. Heute wird Lini wieder einmal das Steuern übernehmen – und damit auch alle seemännischen Einscheidungen. So eigentlich die klare Regelung. Nur halte ich mich an diesem Tag nicht so richtig dran: “Lini, echt mal! Es ist doch kaum Wind. Mit Arne`s Fock kommen wir überhaupt nicht richtig vorwärts bei dem Lüftchen!” versuche ich sie von der Unsinnigkeit ihrer Segelwahl zu überzeugen. “Ja, aber das Wetter ist doch gar nicht stabil! Und eine größere Fock können wir immer noch hochziehen, wenn es draussen nicht reicht. Überhaupt: Misch Dich nicht schon wieder in meine Angelegenheiten ein! Heute entscheide ich!” Da hat sie vermutlich mit allem recht. Und das kann ja wohl gar nicht sein: “Was heißt hier ’nicht stabil’? Seit heute Nacht ist der Wind so schwach! Und seit ich wach bin, scheint die Sonne!” versuche ich meine Ehre zu retten, füge mich dann aber in mein Schicksal. Grummelnd. Grollend. Manchmal schaut man sich selbst wie einem rätselhaften Fremden zu 😉

Kurz vor uns hat auch ‘Atacama’ abgelegt und in unserem Kielwasser folgt ‘Gas Pirate’, während wir in Richtung der großen Brücke über die innere Bucht tuckern. Dann gehen die Segel hoch und Lini kann das Fahrwasser gut anlegen. Von Südwesten kommen hinter der Brücke einige Wolken auf. Nichts bedrohliches, aber Wind bringen sie mit. “Ob Lini vielleicht doch richtig lag? Quatsch, kann ja gar nicht sein!” denke ich mir. Immerhin versaut uns der Düseneffekt wie so oft den schönen Anliegerkurs, sobald wir in der Nähe der Brücke sind. Böig und drehig, hat Lini Schwierigkeiten, nicht auf die Untiefen an Steuerbord getrieben zu werden. Doch zwei schnelle Kreuzschläge später sind wir wieder sicher und aus dem Einflussbereich der steilen Talenge heraus. Und aus deren beeinträchtigter Sicht…

… denn es entpuppen sich die ‘einigen, nicht bedrohlichen Wolken’ als Vorboten von einem alles verschlingenden Monster. Dunkel, schwarz und Unheil verheißend kommt eine mächtige Unwetterfront direkt auf uns zu. Vor sich her treibt sie eine Wand peitschenden flutartigen Regens. Und wir sind mitten zwischen Untiefen auf Legerwall – eine gefährliche Küste, auf die der Wind steht. Auf einmal liegt Lini mit ihrer Segelwahl richtig und falsch zugleich: Gleich geht es so etwas von los – da wird auch ihre vorsichtige Wahl noch viel zu viel sein. “Siehst Du, das meine ich mit ’nicht stabil'”, kommt es von Lini. Dann übergibt sie die Pinne an mich – mehr Zeit für Manöver bleibt nicht. Denn schon werden die Böen heftiger und das aktuelle Ziel kann nur sein, an den nächsten Tonnen vorbei die etwas offenere, äußere Bucht zu erreichen, bevor wir von dem Monster gefressen werden. Augen zu und durch. Hoffentlich geht das gut. ‘Atacama’ knapp vor uns ist bereits nicht mehr zu sehen.

Kaum haben wir ein wenig Seeraum gewonnen (wir reden von Kabellängen, nicht Meilen!) zerbricht der Himmel über uns und schüttet Schwälle von Regen und Sturmböen über uns aus. Trotz flatterndem Groß, fast aufschiessendem Kurs und vollem Crewgewicht in Luv drückt es die ‘EigenArt’ gewaltig herunter. Die ‘Komfortzone’ haben wir längst verlassen, aber zum Glück nur die ‘Kampfzone’ erreicht – noch nicht die ‘Überlebenszone’. “Jetzt muss dringend das Groß weg, sonst geschieht hier ein Unglück”, schreie ich, “lange kann ich das so nicht halten!” In solchen Momenten verdrängt man alles um sich herum, außer der Aufgabe, die es so schnell wie möglich zu bewältigen gilt: Die vom Regen und Atem beschlagene Brille nimmt die Sicht, hören kann man nur noch das rauschende Prasseln des Regens auf die eigene Kapuze und die Böen zerren an allen Ecken des Ölzeugs. Trotzdem fliegen die Hände. Zusammen bändigen wir das schlagende Tuch und bändseln es an den Baum. “Hoffentlich passiert dem ‘Knöpfchen’ nichts unter Deck, so allein”, denken wir wohl beide. Die ‘EigenArt’ reagiert dankbar auf die Entlastung, obwohl die hoch geschnittene Fock immer noch zu viel ist.

Dann ist der erste und schlimmste Ansturm nach knapp 10 Minuten vorbei. Der Regenvorhang öffnet sich und gibt den Blick auf das Schauerspiel frei: ‘Atacama’ kämpft ein Stück weiter in Luv, sehe ich aus dem Augenwinkel – sie scheinen umzudrehen. Als das Monster ‘Gas Pirate’ wieder ausspuckt, sehe ich die große Ketsch wie eine Nussschale stampfen und rollen. Trotz der Boote in direkter Nähe, kämpfen muss hier jeder für sich allein. Denn noch immer schütteln uns die einfallenden Böen und wir holen mächtig über. “Das hört so schnell nicht auf! Wir brauchen dringend Seeraum!” rufe ich Lini zu, die wieder unter Deck zu Helene geeilt ist. Das ist wohl das für Nicht-Segler Paradoxeste: Für ein Segelboot im Sturm ist die See die einzige Zuflucht. Land ist mit Gefahr gleichzusetzen. Besonders auf Legerwall. Und nur mit Aussenborder. Egal, wie gerne man jetzt den schützenden Hafen ansteuern würde, die vermeintliche Sicherheit kann sehr schnell zur Falle werden. Unglaublich, wie schnell sich die See aufgebaut hat.

So kämpfe ich mich an Deck noch kreuzend durch ein paar Untiefen und eine weitere Regen- und Böenwand, bevor wir richtig draussen auf dem See sind. Ausserdem war das Ölzeug nicht sofort an und so friere ich durchnässt vor mich hin. Obwohl das Wetter spürbar besser wird. Derweil haben Helene und Lini unter Deck ihren eigenen Kampf zu bestehen: Der Lebensraum in der Kajüte wird bei Krängung verdammt eng. Und auch die Beschäftigungsmöglichkeiten. Lesen ist fast die einzige Wahl – wenn man denn kann. Zum Glück ist Lini wirklich unglaublich seefest und hält das auch über Stunden aus, wenn es sein muss. Sonst hätten wir wohl doch besseren Wissens umgedreht. Wenn ich durch den Niedergang nach unten blicke, mache ich mir jedoch Sorgen um den Gemütszustand unseres geliebten ‘Knöpfchens’: Müde, antriebslos und bar jeder Anteilnahme liegt sie in ihrer Rettungsweste im Lee der Vorschiffskoje und schaut traurig. Selbst die liebsten Spielsachen um sie herum vermögen sie nicht aufzumuntern: Ball, Zahnbürste und Männchen. Von wegen, Kleinstkinder können nicht seekrank werden! Oder ob sie merkt, dass ihren Eltern der Arsch auf Grundeis geht und sie deshalb so reagiert? Wie auch immer – es ist Zeit für den zweiten Auftritt der Bachblüten-Rescue-Tropfen.

Angesichts solcher Extremsituationen ist die Kommunikation an Bord der ‘EigenArt’ von gegenseitigem Verständnis und Rücksicht geprägt. Wir versichern uns gegenseitig, wie toll wir das machen. Wie tapfer der jeweils andere ist und wie dankbar man selbst. Jetzt gesteht Lini, in der ersten Walze zum ersten Mal auch wirklich Angst gehabt zu haben – um Helene. Und ich muss zugeben: Bei einigen Drückern habe ich auch geschluckt. Ein mulmiges Gefühl der dauerhaften Anspannung bei Sturm ist sowieso nicht zu leugnen.

Erste Jubelschreie ruft bei mir die durchbrechende Sonne hervor, als wir ca. zwei Drittel des Sees überquert haben. Als dann die Hucke vor Karlsborg näher kommt und die Welle abschirmt, ist das Abenteuer Seeüberquerung endlich abge-vättert und Entspannung macht sich breit! Im Lee des Landes bergen wir die Segel, tuckern zur Brücke und nutzen die Wartezeit bis zur Öffnung für eine überfällige Brotzeit. Und lassen die Anspannung abfallen, denn hier im Schutz des Landes merkt man von dem Geballer draussen auf dem See rein gar nichts. Angekommen in Karlsborg krabbelt sich Helene auf einer großen hölzernen Tanzfläche die Seekrankheit aus den Beinen. Hier ist die Saison schon so vorüber, dass man sich wie vergessen fühlt. Nur der Wettergott hat Karlsborg noch auf dem Zettel: Er schickt ein Präsent, das wir spöttisch Las-Vegas-Gewitter taufen – sieht beim Heraufziehen höllisch bedrohlich aus, ist aber nur Show!

P.S.: ‚Atacama‘ ist tatsächlich umgedreht – und zwar unter Segeln: Mitten in der ersten Walze hatte sich die Genuaschot in der Antriebsschraube verfangen. So mussten Johanna und Jan unter tiefgerefftem Groß zurück nach Motala und dort mit Aufschiesser in die Box. Nachzulesen auf ihrem Blog. Da haben wir ja echt Glück gehabt!