Schaukelpartie

Am Donnerstag früh um halb sechs klingelt der Wecker. “Seltsame Sache. Im Urlaub früher aufstehen, als Helene es vorgibt. Und das auch noch freiwillig”, denke ich mir. Ja, tatsächlich haben wir lange hin- und herüberlegt, ob wir nicht sogar nachts losfahren. Man bedenke: Rumpfgeschwindigkeit der ‘EigenArt’ liegt so bei knapp 6 Knoten – also selbst im Optimalfall mindestens 11 Stunden für die ca. 70 sm bis nach Bornholm. Und mit dem Optimalfall rechnet man ja nicht. Selbst wenn er weitestgehend angesagt ist: Ordentlich viel, aber nicht zuviel von hinten!

Ansteuerungen völlig fremder Häfen sind nachts sowieso schon etwas unangenehm. Und erst recht, wenn man das Kind nicht wecken will. Da macht sich das Ablegen während der Schlafzeiten doch angenehmer, weil leiser. Also nur schnell Teewasser kochen und los. Halt, nicht ganz. Da ist ja noch eine Dehler 35 mit dem wohlklingenden Namen ‘Admiral von Schneider’ im Weg – als äußerster im Päckchen. Der müssen wir kurz die Heckleine klauen – der dänische Eigner hat gesagt, wir sollen einfach klopfen. Das das Klopfen so kräftig ausfällt, hat weder er sich, noch wir uns gedacht: Dass das ganze Päckchen von 4 Booten jenseits der 32 Fuss nach hinten nur von dieser fraglichen Heckleine gehalten wird, war abends bei Flaute noch unkritisch. Jetzt bei Wind – und ohne die Leine – klopft sein Buganker vorsichtig fragend kurz an die Kaikante. Das ruft ihn umgehend an Deck – im richtigen Augenblick um von der leise verholenden ‘EigenArt’ wieder die Leine zu übernehmen und dichtzusetzen. Das tut er sehr freundlich und wünscht uns eine gute Reise – manch anderer Eigner hätte gleich die Versicherungsdaten haben wollen, vorsichtshalber und weil man gerade so schön empört sein kann.

‘Knöpfchens’ Schlaf währt bis kurz hinter dem Abzweig nach Vitte: Wieder kommt die neue Arbeitsfock zum Zuge – und da die Stagreiter noch ein wenig klemmen, muss dieser Zug etwas kräftiger und dementsprechend lauter ausfallen. Na ja, spätestens bei den ersten Rollern wäre sie ja eh wach geworden. Definitiv, denn die fallen schon sehr sehr kräftig aus. Und zunächst fehlt wegen der Abdeckung durch den Dornbusch noch der notwendige Stützeffekt durch den Wind. Ein guter, weil passender Einstieg für den Schlag. Schaukelig.

Während wir an Dranske und der rügenschen Nordküste vorbeirauschen, macht Lini uns dreien lecker Müsli und verabschiedet sich telefonisch ausgiebig von Opa Manni. Helene tollt derweil im Vollwaschgang auf dem Vorschiff zwischen unseren Decken umher. Wirklich erstaunlich, wie sehr sich ihre Krabbelkünste schon auf das ständige Schaukeln eingestellt haben. Und sie ist überhaupt nicht mehr zimperlich. Nach einem mittleren Rumser gegen irgendeine der Kanten, guckt sie üblicherweise bedröppelt, zeigt auf den Übeltäter und sagt: Oh! Und dann geht es weiter.

Zur Vorbereitung dieses Seestücks haben wir endlich das Netz für die Vorschiffskoje fertiggestellt: Es gibt uns die Möglichkeit, Helene in ihrem liebsten Spielrevier relativ sicher zu ‘verstauen’, wenn wir beide an Deck benötigt werden o.ä. So kann sie nicht von der Koje herunterfallen. Und auch nicht auf die Kocherabdeckung klettern. Davon ist sie nämlich trotz des Rollens nur unter Aufbietung aller Aufmerksamkeit und psychologischen Verhandlungsstärke abzubringen. Offensichtlich vertraut sie sich und uns. Und wohl auch der ‘EigenArt’. Ein gutes Zeichen finden wir…

So ein Schlag über See ist für viele ‘Landratten’ irgendwie bedrohlich: “Wie? Ihr seht überhaupt kein Land mehr?” Oder befremdlich: “Was? Das geht auf der kleinen Ostsee?” Ja, den kleinsten (unseren) Teil der Ostsee verlassen wir ja gerade erst. Und versuchen den östlichsten Landesteil Dänemarks auf dem Weg zu erwischen. Dorthin sind mit uns zwei weitere Segelboote an der Ansteuerungstonne zwischen Bug und Bessin gestartet: Eine mittelgroße Hanse aus Hamburg verschwindet relativ schnell unter irgendetwas Asymmetrischem in Richtung Horizont. Ein wesentlich treuerer Begleiter ist eine große niederländische Ketsch, die nach Langfahrt aussieht. Und so segelt. Also nur ein µ schneller als wir. Noch kurz vor Bornholm ist ihr Segel auszumachen.

Ansonsten trifft man unterwegs jede Menge Großschifffahrt. Noch so ein Punkt für ‘Landratten’: “Denen müsst ihr doch ausweichen!” Leichter gesagt als getan, die sind nämlich meist 3x so schnell wie wir. In der Praxis hält man also seinen Kurs und versucht abzuschätzen, ob das passt. Und das tut es ja auch fast immer. Wenn nicht, hofft man, dass der einen sieht und Kurs ändert. Das tut er ja auch fast immer. Wenn nicht, muss man wirklich rechtzeitig sehen, dass man wegkommt. Und das ist das Schwierige: Wann ist rechtzeitig und wohin ist dann ‘weg’? Glücklicherweise sind wir als Rostocker Segler an wirklich große Pötte von Nahem gewöhnt. Geschwindigkeiten und Winkel abschätzen ist da ziemlich gut trainiert.

Der dritte ‘Landratten’-Punkt: “Und? Werdet ihr denn nicht seekrank?” Den hätten wir bis zu diesem Ritt beide immer ganz locker und lässig mit einem klaren “Nein, noch nie!” abgetan. Aber gestern waren wir beide soweit, dass wir uns da nicht mehr so sicher sind – erst Lini, danach ich. Lustigerweise beide in der gleichen Situation: Seit Stunden unter Deck mit Helene (Spielen, Wickeln, Essen machen, Aufpassen) und dann im Kniestand mit dem Bauch auf die Kante der Vorschiffskoje gestützt. Also mir wurde auf einmal schlagartig schummrig, heiß und stickig zumute. Und schon rattert die Kopfmaschine los: “Du bist doch jetzt nicht seekrank. Nee, das geht doch jetzt nicht. Aber das fühlt sich so an…”  Ich glaube Lini ging es genauso. Also aufstehen, rausgucken, Luft schnappen, beschäftigen und möglichst nicht dran denken. Denn die Psyche ist der Knackpunkt bei der Seekrankheit.

So, jetzt habe ich schon so viel vom Schaukeln erzählt: Auf ca. halbem Weg nimmt der Wind deutlich ab (wie vorhergesagt). Die Welle merkt sowas ja immer erst ein paar Stunden später und bleibt mal pauschal weiter aktiv. Auf unserem Vorwindkurs lässt sich deshalb die Fock mangels Winddruck einfach überhaupt nicht mehr halten. Sie schlägt durch das Rollen des Bootes wie wild. Uns ist es einfach zu schade um das brandneue Tuch und auch um das über 40 Jahre alte Rigg. Also nehmen wir das Vorsegel weg und nehmen den Geschwindigkeitsverlust hin. Leider rutscht so unsere geplante Ankunftszeit deutlich nach hinten.

Glücklicherweise dreht der Wind ca. 15 sm vor Bornholm weiter südlich und wir können die Fock wieder setzen. Es verdichtet sich eine Ankunftszeit gegen 21-22 Uhr. Wir rutschen also im Abendlicht in den Yachthafen im Norden von Rønne, und finden eine der letzten leeren Boxen. Helene hat glücklicherweise sowieso gerade überhaupt keinen Bock schlafen gelegt zu werden. Sie freut sich also regelrecht über die erstmalige Aktivierung des neuen Vorschiffs-Netzes: So kommen die nervigen, um kindgerechten Schlaf bemühten Eltern nicht so einfach in ihr Reich.

Im Ernst: Wir sind mächtig stolz auf unser ‘Knöpfchen’ – sie hat diese gestrige Schaukelpartie und auch das abendliche Anlegemanöver wunderbar mitgemacht. Deshalb hatte sie sich heute auch einen Strandtag verdient. Mehr haben wir nämlich auch nicht gemacht: Krabbeln, Buddeln, Planschen, Spielen. Toll, mit ihr zusammen so unterwegs sein zu können, wir sind einfach nur dankbar.

2 Gedanken zu „Schaukelpartie

  1. OL & OM

    Unsere Lieben “Seeratten”,
    wir sind überglücklich, dass die Überfahrt so gut gelaufen ist und Helenchen alles gut vertragen hat. Wir wünschen Euch eine schöne Zeit auf Bornholm.

  2. Bruno Stolzenberg

    Hallo Ihr Ostseereisende,
    ich kam kurz vor Mitternacht gesund aus dem meist verregneten Paris zurück , habe noch Eure Beiträge gelesen, Köfferchen ausgepackt und bin ins Bett gefallen.
    Wie gut, dass bisher alles so gut geklappt hat, ich hoffe, es geht so weiter. Ich habe in Paris alles gesehen, was ich sehen wollte. Alfortville ist noch ländlich wie mir bekannt. Der Weg nach Bagneux durch die Nachbarorte – so war damals die Fahrt billiger – brachte noch immer das Gefühl, ganz weit weg von Paris zu sein, allerdings sind die süßen Schrebergärten inzwischen Wohnanlagen zum Opfer gefallen, was ich auch erwartet hatte. In Natachas Wohnung wohnt noch Dubois, aber ich habe – auch per Telefon – niemanden erreicht. Die Anlage ist im Internet noch so wie zu meiner Zeit, ist aber kürzlich ordentlich verändert worden. In die Sorbonne kam ich nicht, es war Prüfungszeit. Ob es sonst geklappt hätte, weiß ich nicht. Die 2 superheißen Tage ohne Regen habe ich für eine ganztägige Stadtrundfahrt mit Unterbrechungen für Rundgänge und für eine Schifffahrt über den Kanal St. Martin genutzt – 4 Doppelschleusen und eine einzelne. Es war so heiß, dass ich mich freute, eine lange Strecke unterirdisch zu fahren, wofür die Mitnahme von Jacken empfohlen wurde. Mein Hotel lag östlich von Sacré Coeur, ich hatte ein Zimmer mit Blick darauf. Die Gegend ist komplett in afrikanischer Hand – Kreuzberg ist dagegen menschenleer – und Paris ist sauber, selbst dort keine Schmierereien. Und Lini, ich hab Stoffe gesehen, tolle Farben und Muster, ich hätte Massen kaufen mögen. So hat es nur zu Eau précieuse gereicht, das Porto dafür war fast so teuer wie der Inhalt.
    Nun Schluß, ich wünsch euch weiterhin allzeit gute Fahrt und immer eine Handbreit Wasser unter dem Kiel und um das Schiff herum. Knuddelt ordentlich das Lenchen von mir!
    Eure Oma A. aus B.

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