Nach der Rast auf Anholt, wollen wir nun die Sicherheit des dänischen Festlands erreichen. Das Zwischenhoch ist uns gnädig und ein leichter Nordwind verspricht zauberhaft ruhiges Segeln – mitten im Kattegat! Auf dem Wege zum Zielhafen Grenå müssen wir jedoch einen Schlenker machen: Europas drittgrößter Offshore-Windpark mit über 100 Mühlen steht im Weg. Aus unserem Kartenmaterial geht hervor, dass das Gebiet gesperrt ist. Glücklicherweise hält sich der Umweg sehr in Grenzen. Aber Lini ist sich unsicher, wie viel Abstand sie halten soll. Denn die eingezeichneten Tonnen sind nicht auszumachen. Als wir das erste Rad in Luv haben, wird die Frage für uns eindeutig beantwortet mit: Deutlich mehr! Denn der Wind lässt derartig stark nach, dass wir überrascht sind. Ein wenig weiter weg ist der Effekt immer noch zu spüren, lässt uns aber nicht mehr regelrecht parken. Von ‚Shalom‘ hören wir später, dass mittlerweile nach der Vollendung der Anlage das Durchfahren erlaubt ist. Aber ihre Windsteuerung hat während der Passage vollkommen verrückt gespielt.
Ein paar Meilen vor Grenå schwächelt der Wind dann ohne äußere Einwirkung und wir müssen unseren Mixgetränk schlürfenden Freund um ‚Nachschub‘ bitten. Dank ‚Atacama‘ fällt die Entscheidung für einen Liegeplatz sehr schnell – direkt daneben natürlich. In der Anfahrt auf die Box ertönt auf einmal ein Poltern unter Deck, gefolgt von lautem Weinen. Das lässt die ‚Mama im Einsatz‘ (Originalton Lini) zu ungeahnten Höhenflügen ansetzen: Sie wirft die Heckleine über den meterweit entfernten Heckdalben als wäre sie ‚Cowgirl‘ von Beruf, stürmt nach vorne und hechtet mit den Vorleinen in der Hand auf den noch ebenso weit entfernten aber ungleich niedrigeren Schwimmsteg. Landung im Telemark. Nach gefühlten 2 Sekunden ist sie zurück in der Kajüte. Und muss angesichts von Helenes Elend an sich halten, um nicht laut loszuprusten. Unser ‚Knöpfchen’ ist in ihre zur Ablenkung bereitgestellte Spielzeugkiste gefallen: Nur Kopf und Füße schauen oben über den Rand, während sie mit dem Hintern tief in der Kiste festhängt. Was für ein Bild…
Nach dem großen Abendspektakel gehen wir zu wirklich später Stunde rüber zu Johanna und Jan auf die ‚Atacama‘. Fremde Boote zu betreten ist ja sowieso immer eine Herausforderung – aber erst recht im Dunkeln. Überall lauern unbekannte Stolperfallen und Hindernisse, während Griffmöglichkeiten in die Finsternis zurückweichen. Die Stolperzwerge entern den unbekannten Bugkorb jedenfalls frontal über die doch recht hochliegende Trittstufe und bewundern die beiden ‚Wüstenbewohner‘ ob ihrer Gelenkigkeit und Spannkraft. „Was? Darüber? Nee, wir steigen immer über die Seite…“ hören wir später. Der Abend im gemütlichen Bauch der ‚Atacama‘ vergeht wie im Fluge während wir uns gegenseitig von unseren Erlebnissen berichten.
Es sieht am folgenden Tag sehr doll nach Flaute aus, was da so über Grenå steht. Jedenfalls wäre es völlig vermessen, vom gleichen Ziel wie ‚Atacama‘ auszugehen: Samsø. Vor allem, da wir nach deren Aufbruch erst noch den Spielplatz bzw. den Kilometer entfernten Bäcker und Brugsen besuchen. Doch als wir schliesslich loskommen, weht uns ein feiner östlicher Sommerwind ganz entspannt die Küste entlang nach Süden. Offensichtlich Seebrise wegen der Thermik. Genuawetter. Wie überhaupt seit Erreichen des Kattegats ist das Wasser so unglaublich klar, dass ich mich bei 5 Metern Wassertiefe erschrecke: Unser Schatten zeichnet sich klar und deutlich auf dem hier und dort mit Seegras bedeckten Sandboden ab. Gerade als wir die erste Hucke erreicht haben und eigentlich abfallen könnten, beginnt der Wind zu schralen und stärker zu werden. Nach den ersten richtigen Böen ist es Zeit, die Genua wegzunehmen und wieder einmal unser Lieblingssegel dieses Jahres aufzuziehen: Die neue kleine Arbeitsfock. Es war also die richtige Entscheidung, genau den alten Lappen als erstes auszutauschen! Aber Kreuzkurs bleibt Kreuzkurs. Die Sonne scheint weiterhin, der Wind stabilisiert sich und es segelt sich ganz annehmbar. Bis auf die Temperaturen, denn ich harre trotz Sonne und wenig Gischt in komplettem Ölzeug im Cockpit aus.
Stundenlanges Kreuzen ist eine Geduldsprobe. Besonders nach einer Winddrehung. Eben konnte man noch anliegen und hätte die vielleicht noch 13 sm in ca. drei Stunden absegeln können. Und auf einmal verdoppelt sich der Weg fast und das Ziel rückt in weite Ferne. Man steuert wechselnd in zwei Richtungen, wo man gar nicht hinwill. Frustrierend. Da kann man wirklich verstehen, warum viele Segler keine längeren Strecken kreuzen und stattdessen dieseln. Doch ihnen entgeht auch etwas – wohlgemerkt bei schönem Wetter! Denn nach dem anfänglichen Unmut beginnt man sich mit dem Unabwendbaren abzufinden. Noch eine ganze Weile später erkennt man die trotzdem unaufhörlichen Fortschritte. Man beginnt in anderen Zeitmassstäben zu denken: Statt in Stunden rechnet man in Schlägen – egal wie lang diese ausfallen. Und wenn endlich das Ziel in greifbare Nähe kommt, verspürt man ein besonderes Gefühl der Befriedigung. Nicht aufgegeben zu haben. Sich die Strecke wirklich erkämpft zu haben. Den einzigen richtigen Vorteil von Kreuzkursen habe ich schon mehrfach erwähnt: Man sieht einfach mehr. Nicht unbedingt, weil man länger unterwegs ist, sondern weil einen die Schläge viel öfter und viel dichter unter Land führen als auf direkten Kursen. So geniesse ich nach dem letzten Holebug den Anblick der friedlich in der Abendsonne liegenden Insel Hjelm – die ich sonst nur in der relativen Ferne passiert hätte.
Zum Abschluss dieses Segeltages wartet auf uns noch etwas, das Johanna nur folgendermaßen kommentierte: „Schleusen? Nee, davon habe ich erstmal genug!“ Doch abgesehen davon, dass Øer der einzige für uns noch bei Tageslicht erreichbare Hafen ist, reizt uns auch das Kuriosum: Ein Hafen, der in einer ehemaligen Kiesgrube errichtet wurde – umgeben von einem Ferienresort. Nur über eine Schleuse mit etwas über einem Meter Hub zu erreichen. Ein wohlgelittener Abschluss für Kanalerprobte wie uns! Auch wenn die ganze Anlage definitiv schon bessere Zeiten gesehen hat. Aber praktisch für die Erhebung der Liegegebühren ist so eine Schleuse allemal: Zeche prellen geht rein technisch überhaupt nicht!
Am nächsten Morgen prophezeit uns der Schleusenwärter/Hafenmeister beim Verlassen der Anlage: Mehr Regen als Wind. Er behält Recht. Wir sind noch kaum aus dem Hafen raus, beginnt es zu Giessen. Und kaum vorwärtsgekommen, da schläft der Wind ein. Wir parken mit schlagenden Segeln in der erheblichen Restdünung. Mitten im Fahrwasser der Katamaran-Strahltriebwerk-Schnellfähren rüber nach Sjælland. Mitten zwischen verschiedenen Inseln und sonstigen Landmassen. Aber zu sehen ist nichts. Außer Grau in verschiedenen Tönungen. Unser eigenes Mittelstrahltriebwerk verschluckt sich wieder einmal fast an der Dünung. Zwischendurch kommt für eine Stunde wieder Brise auf und wir segeln entlang der nordwestlichen Flanke von Samsø. Sieht wundervoll aus, trotz des Wetters. Wieder überwachsene Abbruchkanten an der Steilküste, oben gesäumt von dicht wucherndem Gras. Dahinter wellige Hügel und malerisch geschwungene Kulturlandschaft. Für Lini unter Deck fasse ich zusammen: „Sieht aus wie die große Schwester von Sejerø.“ Dann ersetzt der nächste herzhafte Guss den Wind und spült die Sicht beseite. Im Hafen von Mårup auf Samsø machen wir fest, wo wir in letzter Zeit fast immer festgemacht haben: Neben ‚Atacama‘! Deren Crew zur Begrüßung ausnahmsweise nur kurz aus der Luke unter der Sprayhood hervorgucken. Sonst wäre Ölzeug fällig! Noch in demselbigen steckend, mache ich mich auf in den anderthalb Kilometer entfernten Ort zum ‚Brugsen‘ – unsere Versorgungslücke muss geschlossen werden.
Apropos: Wer mit der Aussprache der dänischen Namen Schwierigkeiten hat, keine Sorgen – geht uns genauso: Wir haben uns bei ‘Mårup’ auf ‘Mohrrüb`’ geeinigt! Ist auch ganz einfach, denn ein Stück weiter liegt ‘Langør’ – beides doch recht passend für eine Insel, deren Umriss frappierende Ähnlichkeiten mit einem Hasen hat.